«Die Sätze, die Leyla in dieser Zeit dachte, dachte sie nicht zu Ende. Aber vollständige Sätze braucht man, sagte sich Leyla immer wieder, ohne vollständige Sätze kann man niemandem davon erzählen. Aber wem hätte sie überhaupt erzählen können, woran sie ohne Ende dachte? Nicht einmal sich selbst konnte sie davon erzählen.»
Leyla wächst als Tochter einer Deutschen und eines jesidischen Kurden in München auf, verbringt aber die Sommerferien jedes Jahr im Dorf ihrer Grosseltern in Nordsyrien. Atmosphärisch dicht erzählt sie vom archaischen Leben im Dorf und der engen Bindung zur religiösen Großmutter, doch von Sommer zu Sommer mischt sich in den kindlichen Blick ein Verstehen. Leylas Vater, der nicht für Assads Geheimdienst arbeiten wollte, erzählt ihr von seinen Entbehrungen, der lebensgefährlichen Flucht nach Deutschland und der jahrelangen Verschleppung seines Asylantrags. Später müssen auch die Großmutter und der Rest der Familie die Heimat verlassen, und Leyla ist Studentin in Leipzig, als sie die Zerstörung Aleppos und die Massaker des IS im Internet verfolgt.
Von welch existenzieller Not aber Leylas Erinnern an die abgerissene Seite der eigenen Biografie ist, zeigt die Autorin im vermeintlich Nebensächlichen. Wie vereint man den deutschen Alltag – das bierselige Herumdösen am See mit dem Abiturjahrgang inklusive ignoranter bester Freundin, die kein Wort über den Krieg verliert – mit dem Wissen um das, was zeitgleich in Syrien und im Irak geschieht? „Wie geht es dir damit, hätte Bernadette sie fragen können, ohne zu sagen, was dieses damit alles bedeutete.“
Die Sommer, das Erzählen, ist eine mögliche Antwort. Ronya Ohtmann hat eine ergreifende Coming-of-Age-Geschichte geschrieben, die im Corona-Frühling leider viel zu wenig Beachtung gefunden hat.
Monika Steiner
