Der Roman spielt ca. 20 Jahre nach «Brooklyn» (erschienen 2010) mit der Hauptperson Eilis im Jahr 1976 auf Long Island: Die italo-amerikanische Familie, in die Eilis eingeheiratet hat, hat sich ihren American Dream erfüllt. Die Grossfamilie Fiorello hat vier Häuser gebaut: die drei Söhne mit ihren Familien und die Schwiegereltern in unmittelbarer Nähe voneinander. Sie führen ein Leben geprägt von familiären Werten und vom Katholizismus. Eilis und Tony haben zwei fast erwachsene Kinder, jeden Sonntag essen die Familien bei der Schwiegermutter Francesca, dem Oberhaupt der Familie. Das Leben gerät aus den Fugen, als Tony mit einer anderen Frau ein Kind zeugt. Die Schwiegermutter entwickelt einen intrigenreichen Plan, um das Kind dieses Fehltritts bei sich aufzunehmen.
Konsterniert vom Seitensprung ihres Mannes überdenkt Eilis ihre Situation. Sie will Tony verzeihen, aber klar ist für sie, dass sie dieses Kind nicht in ihrem Haus dulden wird. Sie verabschiedet sich, um den achtzigsten Geburtstag ihrer Mutter, die ihre Enkelkinder noch nie zu Gesicht bekommen hat, zu feiern – in Enniscorthy, diesem kleinen Ort in Irland, in dem ihre alte Sommerliebe Jim noch immer lebt. Jim hat nie geheiratet, betreibt einen florierenden Pub und spielt mit dem Gedanken, sich mit der Mittvierzigerin Nancy, einer Witwe, die erfolgreich einen Fish-and-Chips-Laden führt, zusammenzutun.
In diesen Rahmen bricht nun Eilis ein, die im Grunde nicht vorhat, Tony zu verlassen, und doch ihr altes Leben auf den Prüfstand stellt. Vom ersten Moment an ist klar, dass die Anziehungskraft, die Eilis und Jim einst zusammenbrachte, nicht schwächer geworden ist.
Toibin ist ein Meister der psychologischen Nuancierung. Vordergründig wirken seine Romane klassisch und in einer anderen Zeit spielend. Er fängt dabei aber etwas so essenziell Menschliches ein, dass seine Figuren zwar unter den Bedingungen ihrer Zeit agieren, aber ihre Sehnsüchte und Widersprüchlichkeiten zeitlos sind. «Long Island» ist ein subtiler, glänzend austarierter Roman, wie man ihn sich als wunderbare Sommerlektüre wünscht.
Monika Steiner