Odessa war bis vor kurzem weder eine rein ukrainische noch eine russische Stadt, sondern eine Mischung aus beiden Kulturen und Sprachen. Der Roman spielt im Sommer 2014; es lebte sich noch unbeschwert in der Stadt, der Krieg scheint fern und rückt doch näher. Die grossen Gräben öffnen sich bereits zwischen Freunden und Familien, zwischen Alt und Jung.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht Olga, die die Familienehre retten soll, indem sie Medizin studiert, aber eigentlich Musik hätte studieren wollen. Ihr Grossvater ist das Oberhaupt der Grossfamilie, der alle tyrannisiert, launisch ist, misstrauisch, und sich ständig darüber aufregt, dass ihm das Leben nur Töchter geschenkt hat und keinen einzigen Sohn. Die drei Generationen leben zusammen in einer großen Wohnung, in der der Opa der einzige Mann ist, die Ehemänner seiner Töchter hat er vergrault. Gestritten wird Tag und Nacht, diese Familie gleicht einem Vulkan, der jeden Moment ausbrechen kann. Genau dieser ganz normale Familienwahnsinn macht den Roman wunderbar lebendig. Ein schnelles Wechselspiel zwischen ernst und komisch, zwischen Drama und Komödie.
Olga verliebt sich, erlebt Liebesverrat und Freundschaft, sie wird politisiert, muss Stellung beziehen. Sie wird auf eine sehr poetisch beschriebene Weise erwachsen und zwischen allen Zeilen schwebt die Liebe zu ihrer Heimatstadt Odessa.
«Bald wird nichts mehr vom alten, ursprünglichen Odessa übrig sein, denke ich, als wir einen dieser greisenhaften Innenhöfe mit heruntergekommenen Häusern, herumhängenden Kabelschleifen und dem Geruch gebratenen Fischs betreten. Ein Dutzend Katzen eilt uns entgegen in der Hoffnung, wir hätten etwas Essbares dabei, und sie miauen beleidigt, als wir an ihnen vorbeigehen».
Das Wunderbare an diesem Roman von Irina Kilimnik ist, dass er nur in Odessa spielen könnte und gleichzeitig in jeder Familie auf der Welt. Irina Kilimnik, in Odessa geboren, erzählt im Buch auch von ihrer Heimatstadt mit den Badestränden und Boulevards, den Cafés, Parks und Prachtstraßen aus einer Zeit vor dem Krieg. Sie tut das mit einer grossen Zuneigung und Verbundenheit.
Monika Steiner
