Der französische Soziologe und Autor Éduard Louis schafft in seinem neuen Werk ein gefühlvoll aufgebautes Porträt seiner Mutter. Um genauer zu sein, ein Porträt ihrer Befreiung, wie der Titel schon vorwegnimmt.
Auslöser für die Erzählung ist eine Selbstaufnahme seiner Mutter in ihren Zwanzigern. Auf dieser Fotografie strahlt sie eine Freiheit aus, die Louis anfänglich befremdete, da er seine Mutter so nicht kannte. Aufgewühlt von all diesen Gefühlen, begann er einen Dialog mit ihr zu führen und ihre «verlorenen» Lebensjahre als Mutter und Hausfrau aufzuschreiben.
Verloren sind diese Jahre an die Armut, die im Norden Frankreichs herrschte, an die Männer, die sie lieber schlugen, als wertzuschätzen: Alles in allem gingen ihre Jahre verloren an eine Gesellschaft, die ihr weder Raum noch Möglichkeiten gab, jene Frau (oder überhaupt eine Frau) zu sein, die sie hätte sein wollen.
Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive des Sohnes erzählt, dabei fliessen auch Erinnerungen und Gefühle des Autors in die Erzählung ein: Sein Mit-ihr-, An-ihr- und Unter-ihr-Leiden, sein Sich-Sehnen nach einer anderen, glücklicheren Mutter.
Eines Tages fasste sie Mut, stand auf und ging. Auch davon berichtet Louis. Hinaus aus der belastenden Schwere und Enge bestehender Umstände erschaffte sie mittellos und ohne Ausbildung einen Neuanfang und befreite sich selbst.
Beim Lesen kommt der Gedanke auf, inwieweit Louis auch seine eigene Geschichte erzählt: Sein Dasein als schwuler Mann in einem homophoben Umfeld. Dieses Buch entstand als eigenständige Publikation im Zuge seiner Recherchen für ein grösseres, autobiographisches Werk, das soeben in französischer Sprache erschienen ist.
Dshamilja Walde
