«Wo genau verläuft die Grenze zwischen Nichtankommen und Nichtwegkönnen?»
Was vermag eine Tochter wirklich über ihren Vater zu wissen, wenn sie nur in den ersten Jahren ihres Lebens mit ihm aufgewachsen ist? Einen Vater, den sie vor fünf Jahren das letzte Mal gesehen hat? Wie zuverlässig sind ihre Erinnerungen an ihn? Warum hat er sie und ihre Mutter verlassen, ist in sein Herkunftsland zurückgekehrt, zu dem er zwiespältige Gefühle hegt? Wie lebt er in der Gegenwart, in einem zerrütteten Land, und wie hat seine Vergangenheit ihn geprägt? Interessiert dieser Vater sich überhaupt für die Tochter?
Diese Fragen stehen im Zentrum von Nilufar Karkhiran Khozanis autobiografischem Debütroman «Terafik». Was Nilufar unter anderem weiß: ihr Vater heißt Khosrow, lebt in dritter Ehe, wurde 1956 im iranischen Abadan geboren und ist 1979 aus politischen Gründen nach Deutschland geflohen. In Deutschland engagierte er sich im Exiliraner-Komitee und der SPD, war Fußballtrainer, studierte Elektrotechnik, arbeitete bei Siemens, doch eine langfristige und erfolgreiche Karriere als Ingenieur blieb ihm verwehrt. Ein Mann mit Hoffnungen und geplatzten Träumen; ein Vater, der aber für die Tochter in Fragmenten doch irgendwie ein Rätsel bleibt. 2016 erhält Nilufar eine Einladung von Khosrow, ihn in Teheran zu besuchen. Zögerlich nimmt sie an und reist in das ihr bislang unbekannte Herkunftsland ihres Vaters.
Der Roman taucht tief in die inneren Konflikte und Gedanken von Nilufar ein, die sich in ihren Reflexionen über ihre Identität und die Suche nach Zugehörigkeit zeigen. «Terafik» bietet äußerst intime Einblicke in die innere Zerrissenheit, die Nilufars Leben prägen. Zwischen Zuneigung und Entfremdung zu ihrem Vater, oszillierend zwischen Sprachlosigkeit und Verständnis auch gegenüber den anderen Familienmitgliedern, zeichnet die Autorin außerdem mit einem oftmals sehr lyrischen Ton ein atmosphärisches, facettenreiches Bild des Irans und dort lebender Menschen. Als Leser:in ist man sich dabei stets bewusst, dass die Darstellung des Landes in seiner Komplexität nur jenen Ausschnitt zeigt und zeigen kann, der auch der Erzählerin von ihrer Familie gezeigt wurde. Zusätzlich verarbeitet die Autorin die Erfahrungen von Ressentiments, Diskriminierungen und bildungspolitische Ungerechtigkeiten, denen nicht nur ihr Vater, sondern auch sie selbst ausgesetzt war und ist. «Terafik» ist auch ein Roman der Lebensrealität einer jungen Frau, welcher der schmerzhafte und abwertende Stempel «Ausländerkind» anhaftet. Eine grosse Leseempfehlung!
Monika Steiner