«Niemand spricht über das Gnadenjahr. Es ist verboten. Angeblich besitzen wir die Macht, Männer aus ihren Betten zu locken, Jungen in den Wahnsinn zu treiben und Ehefrauen vor Eifersucht zum Rasen zu bringen. Sie glauben, unsere Haut verströme ein starkes Aphrodisiakum: das wirksame Elixier der Jugend eines Mädchens im Übergang zur Frau. Deshalb werden wir während unseres sechzehnten Lebensjahres verbannt. Wir sollen unsere magischen Kräfte in die Wildnis entlassen, bevor man uns erlaubt, in die Zivilisation zurückzukehren.»
In diesem Jahr wird es Tierney treffen. Die intelligente junge Frau hat nur Gerüchte über das Gnadenjahr aufgeschnappt. Die Überlebenden sind nach der Rückkehr ausgemergelt und gebrochen. Auch Tierney weiss nicht, ob sie überleben wird und was sie erwartet. Darüber zu sprechen, zu träumen oder Magie zu wirken, wird in der strengen, patriarchalischen Gemeinschaft mit dem Galgen bestraft.
Vor dem Aufbruch ins Gnadenjahr gibt es eine Zeremonie. Die heiratsfähigen Männer wählen aus den Mädchen ihre Braut aus und stecken ihr einen Schleier an. Sollte die Auserwählte das Jahr überleben, wird sie danach verheiratet, um möglichst viele männliche Nachkommen zu gebären. Alle anderen Überlebenden werden auf dem Feld, in der Mühle, der Molkerei oder als Magd arbeiten.
Das Buch ist voller Symbolik: Die alte Sprache der Blumen, mit welcher kommuniziert wird. Der weisse Schleier der Bräute. Der Zopf, den alle Frauen tragen müssen, damit sie nichts verbergen können. Er wird markiert mit weissen Bändern für die kleinen Mädchen, roten für die Gnadenjahr-Mädchen und schwarzen für die Ehefrauen. Unschuld. Blut. Tod.
Dieses eindrückliche Buch hat mich sehr bewegt und wütend gemacht. Hier werden die Frauen systematisch unterdrückt und klein gehalten. Widerstand keimt nur langsam auf. «Der Report der Magd» trifft auf «Herr der Fliegen» für junge Erwachsene ab 14 Jahren.
Thea Wyler
