Tilda und Ida leben allein mit ihrer alkoholkranken Mutter. Was das bedeutet, dafür findet Caroline Wahl in ihrem Debutoman eine klare und treffende Beschreibung: Sie sind keine Abendbrottischfamilie. Es gibt keine gemeinsamen Mahlzeiten, kein Familienleben, kein Elternteil, der Verantwortung übernimmt. All das lastet auf Tilda. Sie bringt am Morgen ihre kleine Schwester Ida in die Schule, bereitet sich dann auf ihre Masterarbeit vor, jobbt nachmittags im Supermarkt. Ihr kleiner Freiraum: 22 Bahnen, die sie täglich im Freibad schwimmt. Erst ein Angebot ihres Professors, sich für eine Promotionsstelle in Berlin zu bewerben, reisst Tilda aus ihrer Routine. Aber in Tildas Kopf schwebt die grosse Frage: „Kann ich Ida mit den Flaschen und Mama allein lassen?“ Tilda beobachtet ihre Mutter als wäre sie ein gefährliches Tier. Wir erleben aus Tildas Perspektive ein Leben in permanenter Anspannung zwischen aufkommender Panik und im Bemühen um Kontrolle. Wie ein klassischer Coming-of-Age-Roman emanzipieren sich die Schwestern im Laufe der Geschichte; nur lebt die Herausforderung, deren sie sich stellen müssen, mit ihnen unter einem Dach.
Trotz des schwierigen Themas gelingt der Autorin die Balance zwischen herzerwärmend schöner und gnadenlos realistischer Sprache. Caroline Wahl nimmt ihre Protagonistinnen ernst, verliert kein Wort zuviel und ist doch ganz nah bei ihnen. Der Roman ist auf mehreren Ebenen eine Liebesgeschichte: die Zuneigung der Autorin zu ihren Heldinnen, eine unerschütterliche Liebe zwischen zwei Schwestern, eine unerwartete Sommerliebe – und – sehr zentral: die grosse Liebe zu Literatur, Märchen, Geschichten und Superheldinnen.
Monika Steiner
